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SS geht gegen Edelweißpiraten vor

Das Wuppertaler Flugblatt

Das Reichssicherheitshauptamt (RSHA) der SS verfasst einen Bericht über die Aktivitäten der Edelweißpiraten. Seit 1941 sind in rheinischen und westfälischen Städten Jugendliche aufgefallen, die sich unter der Bezeichnung Edelweißpiraten zusammengeschlossen haben. Sie fallen vor allem durch ihre Kluft auf, also einheitliche Kleidung wie weiße Strümpfe, kurze Lederhosen, bunte Fahrtenhemden, Halstücher und ein Edelweiß als Erkennungszeichen. Sie nehmen auf ihre Wanderungen Gitarren mit, singen Piraten-, Fahrten- und bündische Lieder und zelten oder übernachten in Scheunen.

Als besonders verwerflich beurteilt das RSHA die Tatsache, dass Jungen und Mädchen gemeinsam wandern und angeblich zusammen nackt baden. "Die sittliche Verwahrlosung der jugendlichen Gruppen war besonders an den Rheinwiesen, an den Talsperren des Bergischen Landes" und an weiteren unbeaufsichtigten Plätzen zu beobachten.

Eine weitere Anschuldigung gegen die Edelweißpiraten sind Garten- und Felddiebstähle und Raufereien mit der Hitlerjugend (HJ). Die Jugendlichen legen "gegen alles, was irgendwie mit der HJ zu tun hatte, eine feindliche Einstellung an den Tag, was auch in ihren Liedern, sowie in ihrem Verhalten gegenüber HJ-Angehörigen zum Ausdruck kam."

Im Winter 1942/43, als nicht mehr gewandert werden konnte, treffen sich einzelne Gruppen in den Städten, vor allem in gewissen Stadtteilen, Parkanlagen oder auf Bahnhöfen. Angeblich haben sie dort Passanten angepöbelt und während der Dunkelheit Straftaten begangen, zum Beispiel Büchsen des Winterhilfswerks aufgebrochen, Pakete aus den Bahnhöfen und Alkohol aus Kellerräumen gestohlen.

Im Dezember 1942 zerschlägt die Gestapo fast 30 Gruppen in Düsseldorf, Duisburg, Essen und Wuppertal. Davon sind über 700 Jugendliche betroffen. 320 Jugendliche werden verhört. 130 Jugendliche werden vorübergehend festgenommen und drei Personen, davon zwei jüdische "Mischlinge", kommen in Konzentrationslager. Andere Jugendliche werden der öffentlichen Fürsorge unterstellt und weitere aus ihren Wohnbezirken entfernt. Gegen 140 Personen soll ein Strafverfahren eingeleitet werden. Die übrigen Jugendlichen sollen möglichst bald zum Reichsarbeitsdienst und der Wehrmacht einberufen werden.

In Gelsenkirchen werden seit Anfang des Jahres 1942 knapp 40 Jugendliche festgenommen, von denen sechs immer noch inhaftiert sind. Ihr mutmaßliche Anführer, der 17jährige Robert P. solle nun verhaftet werden. Auch in Recklinghausen kommt es zu Razzien gegen Edelweißpiraten, bei denen etwa 50 Jugendliche festgenommen werden. Die Hauptbeteiligten werden zu Gefängnis bis zu sechs Monaten verurteilt. In Krefeld wird der 23jährige Friedrich L. zu eineinhalb Jahren Gefängnis verurteilt.

Das RSHA stellt bei den Edelweißpiraten keine politische oder konfessionelle Ausrichtung fest. Es spricht vielmehr von einer "z.T. kriegsbedingte[n] Romantik- und Abenteuersucht von Jugendlichen aus den Großstädten". Bündisches Gedankengut schreibt das RSHA den Edelweißpiraten zu, jedoch keine bündische Tradition. Ein fester Zusammenschluss kann auch allein durch die Einberufungen zur Wehrmacht und zum Reichsarbeitsdienst nicht entstehen.

In Wuppertal findet das RSHA angeblich "Ansätze für eine politische Zersetzungstätigkeit". Drei Jungen haben staatsfeindliche Gespräche geführt, einer ein Flugblatt angefertigt. Das bleibt jedoch der einzige Fall von politischer Betätigung. "Die Mehrzahl der Jugendlichen war sich der Tragweite ihrer Handlungsweise nicht bewußt. Sie haben die Fahrtenkluft getragen, um, wie sie sagen, nach außen hin zu zeigen, daß sie etwas anderes sein wollen. Die Lieder haben sie gesungen, weil Melodie und Text ihrer Jugendphantasie entsprachen."

Trotzdem will das RSHA die Edelweißpiraten nicht als harmlos ansehen, sondern empfindet sie als "sittliche, kriminelle und politische" Bedrohung. Die Razzien haben außerdem ergeben, dass politische Gegner des Dritten Reichs die Edelweißpiraten bereits "sorgfältig beobachtet und schon Material vorbereitet hatten, das in Form von Hetzschriften in den Besitz der "Edelweißpiraten" gebracht werden sollte". Die Edelweißpiraten sollen, so laut RSHA der Plan von marxistischen Kräften, als so genannte "Stoßtrupps innerhalb der Jugend" eingesetzt werden.

Der Versuch, eine Verbindung zwischen kommunistischen Gegnern des Nazi-Regimes und Jugendcliquen aufzubauen, zeigt das Bestreben von SS und anderen Institutionen, die Edelweißpiraten zu kriminalisieren und zu zerschlagen. Jede Organisation außerhalb der Staatsjugend wird als gefährlich angesehen. Dementsprechend schlägt das RSHA vor, die Jugendlichen vor Gericht zu stellen und zu verurteilen.



 
Lexikon
Kluft
Hitlerjugend (HJ)
Schutzstaffel (SS)
Winterhilfswerk (WHW)
Reichsarbeitsdienst (RAD)
Edelweißpirat
Konzentrationslager (KZ)
Wehrmacht
Reichssicherheitshauptamt (RSHA)