Bei den Bemühungen des Reichskriminalamtes, kriminelles Jugendverhalten zu definieren, spielt vermeintlich deviantes Sexualverhalten eine wichtige Rolle. So wird "bei der weiblichen Jugend" das "Abgleiten in die Prostitution" und bei den männlichen Jugendlichen die "Ausbreitung der Homosexualität" befürchtet. Die "verwahrlosten" weiblichen Jugendlichen würden aufgrund "fehlender Aufsicht und im Schutze der Verdunkelungsmaßnahmen der Unzucht" nachgehen; sie gehörten "erfahrungsgemäß zu den gefährlichsten Ansteckungsquellen für Geschlechtskrankheiten", weshalb ihre "Zuführung zu den zuständigen Fürsorgestellen auch im Interesse der Volksgemeinschaft dringend erforderlich" sei. Aber auch "herumstreunende männliche Jugendliche" seien aufzugreifen und den "zuständigen Fürsorgebehörden zuzuleiten", wobei das "besondere Augenmerk auf solche Jugendlichen zu richten sei, die als homosexuell bekannt sind oder verdächtigt werden."
Diese Einlassungen des Reichskriminalpolizeiamts bilden in der kriminalistischen Diskussion keine Ausnahme. Die Fixierung auf die "sexuelle Verwahrlosung" Jugendlicher entwickelt sich im NS-Staat zu einem politischen Beobachtungsobjekt und Experimentierfeld bigotter "Volkskörperstrategen". Diese machen die Verwahrlosungstendenzen vor allem in der Homosexualität und bei weiblichen Jugendlichen aus. Die entsprechenden Berichte über jugendliches Sexualverhalten offenbaren einen pornographisch-voyeuristischen Blick. Sie sprechen aber ebenso von übersteigerten Regelungsbemühungen, die mit starkem Eingriffs- und Abstrafungsverlangen verbunden waren. Denn gerade die nicht "normgerecht" und fortpflanzungsorientiert praktizierte Sexualität erschien ihnen als ein nicht zu kontrollierendes und schon deshalb potentiell bedrohliches und latent staatsgefährdendes Feld.
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