Chronik 
Denkschrift der Reichsjugendführung zur "Cliquenbildung" im Krieg

Die Reichsjugendführung gibt eine von Heinrich Lüer und William Knopff verfasste Denkschrift zur Bekämpfung von Jugendcliquen und -banden heraus. Sie thematisiert zunächst das Grundproblem der Verfolgungsinstanzen, dass "eine tatbestandsmäßig gefaßte, mit Strafe bedrohte Festlegung des Unrechtsgehaltes der Cliquenbildung unter Jugendlichen ... bis jetzt nicht vorhanden" sei. Deshalb müsse zu Hilfskonstruktionen gegriffen werden, die die HJ nicht befriedigen könnten, da sie allenfalls die "Begleitkriminalität" erfassen würden.

Die HJ-Führung, die das Problem der Cliquenbildung im Herbst 1942 in dramatische Worte gekleidet hat, befindet sich dabei in einer zwiespältigen Situation. Einerseits fühlt sie sich durch die Existenz dieser Cliquen in ihrem Totalitätsanspruch berührt, ist aber allein kräftemäßig nicht mehr in der Lage, diese Situation ohne äußere Hilfe zu meistern. Andererseits liegt in der - wenn auch nur internen - Bekanntgabe der Tatsache, daß immer mehr Jugendliche außerhalb der HJ ein Eigenleben zu führen suchen, ein indirektes Eingeständnis des eigenen Versagens. Dieses Versagen könnte einschneidende Kompetenzabgaben zur Folge haben. Deshalb muss die Situation zwar als ernst geschildert, aber nicht mit einer verfehlten Politik der HJ-Fühung oder des NS-Regimes begründet werden. So bietet sich als Erklärung nur "der Krieg" und seine nicht zu steuernden Begleitumstände an. Die Bildung von Cliquen, "das heißt von Zusammenschlüssen Jugendlicher außerhalb der Hitler-Jugend" - so die Denkschrift vom Herbst 1942 - habe sich "besonders aber im Kriege in einem Maße verstärkt, daß von einer ernsten Gefahr der politischen, sittlichen und kriminellen Zersetzung der Jugend gesprochen werden" müsse. Diese Cliquen ständen "zum Teil in offener politischer Gegnerschaft zum Nationalsozialismus und [!] zur Hitlerjugend"; aber auch die (unpolitische) "Kriminalität der Jugendlichen [habe] in den Cliquen an Umfang und Schwere ganz erheblich zugenommen", so daß es "unerläßlich" geworden sei, "diese Zusammenschlüsse im ganzen Reich einheitlich und unnachsichtig zu bekämpfen". Ihr Weiterbestehen würde eine "öffentliche Gefahr" und "für die Zukunft die Möglichkeit unabsehbarer Schäden" bedeuten.

In der Denkschrift werden "drei Typen" von Cliquen definiert:
1. Diebes- und Verbrecherbanden, "deren verbrecherische Energie bedeutend zugenommen haben"
2. Politisch-weltanschauliche Gegnergruppen, wobei "ausgesprochen parteipolitisch-gegnerische Gruppen (Marxisten, Kommunisten) ... nur noch selten nachweisbar" seien
3. Vergnügungs- und Swinggruppen (Gefährdetengruppen), die aus dem gehobenen Mittelstand stammten und "nach englischem Vorbild ... lediglich ihrem Vergnügen, sexuellen und sonstigen Ausschweifungen leben". Weil letztere aber auch "jede Beschränkung der persönlichen Freiheit (auch den Hitler-Jugend, Arbeits- und Wehrdienst) ablehnten, seien "auch [sie] als politische Gegner aufzufassen", denn gerade diese Gruppen würden auf "die noch gesunde Jugend eine starke Anziehungskraft" ausüben, der der örtliche untere HJ-Führer oft nicht gewachsen sei.

Eine vierte, nicht klar auszumachende Gruppenstruktur von sich aus alltäglichen Berufs-, Schul- oder Wohnzusammenhängen ergebenden "Gelegenheitszusammenschlüssen" könne "durchaus harmlos, ... aber vielfach [auch] die Keimzelle gefährlicher Entwicklungen" sein.

Deswegen werden in der Denkschrift selbstkritisch "Mängel in der Arbeit der Hitler-Jugend" eingeräumt, die "noch nicht bis in die letzten Einzelheiten einheitlich ausgerichtet" sei. Außerdem sei der "Dienst vielfach einseitig und ungenügend", also unattraktiv geworden durch den mit Kriegsbeginn einsetzenden Führermangel. So könne der Dienst nicht mit den scheinbar verlockenden Angeboten der Cliquen konkurrieren, die zudem dem natürlichen Freiheitsdrang der Jugendlichen entgegenkämen. Die nachrückenden Führer seien "ihrer Aufgabe noch nicht gewachsen" und würden sich beim Dienst aus Unsicherheit auf stupide "Ordnungsübungen ... mit militärischem Akzent" beschränken. Dadurch wollen sie eine "Autorität" vortäuschen, die nicht vorhanden" sei. Dies mache "selbst dienstwillige Jungen sehr bald dienstmüde und dränge die Aktiveren in Opposition".

Beobachtet wird außerdem, dass im Krieg das Selbstwertgefühl vieler Jugendlicher stark gestiegen sei, da sie als begehrte und umworbene Arbeitskräfte plötzlich über altersuntypisch viel Geld verfügen, sich ohne elterliche und HJ-Kontrolle wähnen, den "häufiger [werdenden] sexuellen Versuchungen erliegen und sich in starkem Maße "der Gemeinschaftserziehung der Hitler-Jugend" entfremden.

Nachdem die Reichsjugendführung in der Denkschrift alle bisherigen Versuche zur Zerschlagung der Cliquen und alle bestehenden Bekämpfungsmöglichkeiten vorgestellt und für unzulänglich erklärt hat, schlägt sie vor, eine "besondere Strafbestimmung gegen Zusammenschlüsse Jugendlicher zu schaffen, deren Tatbestand weit genug ist, um alle unerwünschten Erscheinungen dieser Art, die mit den jetzigen Bestimmungen nicht faßbar sind, bekämpfen zu können. Die Vorschrift soll auch die Möglichkeit bieten, gegen Jugendliche vorzugehen, die im Rahmen öffentlicher oder nicht öffentlicher Zusammenkünfte durch ihr Verhalten die Gebote der Sitte, des Anstandes und der Haltung gröblich verletzen oder sich sonstige grobe Verstöße gegen Haltung und öffentliche Disziplin zuschulden kommen lassen." Das kommt einer Blankovollmacht für jeden HJ-Führer gleich, die ihn berechtigen würde, zu jedem Zeitpunkt und zu jedem Anlass gegen Jugendliche vorzugehen. An einer derartigen Generalklausel zur Bekämpfung der Cliquen sind jedoch weder Justiz noch Polizei interessiert.



 
Lexikon
Hitlerjugend (HJ)
Reichsjugendführung (RJF)