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SS bekämpft oppositionelle Jugendgruppen

Das Reichssicherheitshauptamt (RSHA) der Schutzstaffel (SS) gibt Ende Oktober 1944 Anweisungen heraus, wie seiner Ansicht nach oppositionelle Jugendgruppen auftreten und wie sie zu bekämpfen seien. Der Bericht lehnt sich an ein Schreiben des Reichsjustizministeriums vom Anfang des Jahres 1944 an.

Gerade in größeren Städten hätten sich in letzter Zeit verstärkt Cliquen von Jugendlichen gebildet. Sie seien "kriminell-asozialer" oder "politisch-oppositioneller" Art und nach Meinung der SS verstärkt zu überwachen, gerade im Hinblick darauf, dass viele HJ-Führer, Väter und Erzieher momentan im Krieg seien.

Gegen die Jugendgruppen will das RSHA gemeinsam mit der Hitlerjugend, der Justiz und dem Jugendamt vorgehen. In einem ausführlichen Bericht beschreibt sie "Art und Auftreten der Cliquen":

Die Jugendgruppen würden "nach bestimmten mit der nationalsozialistischen Weltanschauung nicht zu vereinbarenden Grundsätzen ein Sonderleben führen". Ein gemeinsamer Nenner sei die Ablehnung der Hitlerjugend und der "mangelnde Wille, sich den Erfordernissen des Krieges anzupassen".

(Eigen-)Bezeichnungen der Jugendlichen seien Namen wie Edelweißpiraten, Meute, Schlurf oder Blase. Eine feste Organisation kann das RSHA jedoch nicht entdecken und eher von einem losen Zusammenschluss. In manchen Fällen würden Erkennungszeichen wie Edelweißabzeichen, Totenkopfringe oder farbige Nadeln getragen werden. Die Cliquen haben feste Treffpunkte und gehen gemeinsam auf Fahrt. Auch zwischen den Gruppen gäbe es gelegentlich freundschaftliche aber auch feindschaftliche Verbindungen.

Solche Cliquen fänden sich durch "gemeinsame Zugehörigkeit zu einem Betrieb, einer Schule oder einer Organisation oder durch Wohnen im gleichen Bezirk" zusammen. Zuerst möglicherweise harmlos, spricht die SS den Gruppen eine wahrscheinlich "bedrohliche Entwicklung" zu, manchmal auch durch den Einfluss eines einzelnen.

Es gäbe drei Grundhaltungen, die Cliquen annehmen könnten. Meistens käme es zu Überlappungen:

Zum einen gäbe es "kriminell-asoziale" Gruppen. Es ist eine bei den Nationalsozialisten häufig genutzte Diffamierungsart von Jugendlichen, sie als "Kriminelle" und "Asoziale" zu bezeichnen. Oftmals äußere sich die "Kriminalität" in - meist kriegsbedingten - "gemeinsamen Diebstählen", Raufereien (mit der HJ) und "Sittlichkeitsdelikten". Damit ist sexueller Kontakt zwischen Jungen und Mädchen, aber auch gleichgeschlechtlicher Kontakt gemeint. Homosexuelle - ob der Vorwurf nun richtig war oder nicht - werden im Dritten Reich hart verfolgt. Grund genug für die Nazis, gegen die Jugendlichen vorzugehen, sehen sie darin doch eine "allgemeine charakterliche und sittliche Verwahrlosung".

Gruppen mit "politisch-oppositioneller" Einstellung wird eine "staatsfeindliche Haltung" zugeschrieben. Sie seien negativ gegen die Hitlerjugend eingestellt, würden Überfälle gegen sie organisieren, ausländische Rundfunksender abhören und sich in verbotenen (bündischen) Gruppen organisieren. Um sich zu tarnen oder um zersetzend zu wirken, würden diese Jugendliche oft in Parteiorganisationen eintreten.

Zum dritten gäbe es Cliquen mit "liberalistisch-individualistischer Einstellung". Diese Jugendlichen hören und tanzen zu im Dritten Reich verbotener Musik wie Jazz und Swing. Sie zeigen eine "Vorliebe für englische Ideale, Sprache, Haltung und Kleidung (englisch-lässig)". Nach Einschätzung des RSHA kämen die Jugendlichen aus dem gehobenen Mittelstand und wollen sich ihre eigenen, vom NS beschnittenen Freiheiten bewahren. Da sie bald mit Zwängen wie Hitlerjugend und Wehrdienst konfrontiert wurden, könne es zu einer "staatsfeindlichen" Haltung kommen.

Die Mitglieder von diesen Gruppen unterscheidet der Bericht in "Anführer, aktive Teilnehmer und Mitläufer". Die Anführer seien oft "Erwachsene oder Ausländer, die durch besondere Intelligenz, Initiative oder Rohheit hervortreten." Angeblich entstammen sie oftmals aus oppositionellen Kreisen oder seien als "Kriminelle" in Erscheinung getreten. Auch die übrigen Angehörigen seien zum Teil "kriminell vorbelastet oder entstammten ungeordneten Familienverhältnissen". Es gäbe aber auch Jugendliche aus "ordentlichen Familien", in denen die Eltern die Aufsichtspflicht vernachlässigt hätten. Diese Jugendlichen sieht der Bericht als fehlgeleitet an.

Die Gruppen haben oftmals eine eigene Kluft und eigene Spitznamen. Durch die ungeregelten Verhältnisse im Krieg üben sie nach Ansicht des RSHA eine noch stärkere Attraktivität auf Jugendliche aus.

Zur Bekämpfung dieser Jugendgruppen schlägt der RSHA-Bericht verschiedene Maßnahmen und Richtlinien vor:

Zuständig für die Bekämpfung von Jugendkriminalität sei das Reichskriminalpolizeiamt, bzw. der örtlichen Kriminalpolizei. Gibt es einen politischen oder staatsfeindlichen Verdacht, trete die Gestapo in Aktion.

Das RSHA stellt fest: "Überwachung und Bekämpfung der Cliquen sind kriegswichtig." Somit hat die Verfolgung der Jugendlichen eine hohe Priorität und alle Stellen, die sich mit Jugend beschäftigten, sollen eng zusammenarbeiten.

Sobald eine Jugendgruppe entdeckt wird, sollen polizeiliche Maßnahmen in Zusammenhang mit dem Sicherheitsdienst (SD) der SS erfolgen. Dabei solle aber darauf geachtet werden, dass genügend Informationen vorhanden seien, um alle Mitglieder der Gruppe zu verfolgen. Gruppenbildung soll im Keim erstickt werden. Das RSHA befürwortet "energisches Durchgreifen", was gerade in der letzten Phase des Krieges offener Terror gegen die Verfolgten bedeutet. So werden beispielsweise nur etwa zwei Wochen später, am 10. November 1944, in Köln-Ehrenfeld 13 Menschen öffentlich gehängt, darunter jugendliche Edelweißpiraten zwischen 16 und 18 Jahren.

Es sei bei der Bekämpfung der Jugendgruppen nicht zentral, "einzelne strafbare Handlungen aufzuklären, sondern vor allem Feststellungen über die Cliquenbildung selbst zu treffen". Dazu gehören neben den Mitgliedern die Verbindung zu anderen Cliquen, die Treffpunkte, Ziele und Aktivitäten.

Es sollen Versuche gemacht werden, die Jugendlichen wieder in die "Volksgemeinschaft" und die Staatsjugend zu integrieren. Darum sei auch die "innere Einstellung der Cliquenangehörigen zu erforschen", um abzuschätzen, welche Maßnahmen anzuwenden seien. Bei jugendlichen Mitläufern würden "erzieherische Maßnahmen den erstrebten Erfolg am besten gewährleisten, besonders dann, wenn es sich um im Grunde noch ordentliche Jugendliche handelt." Ihr Wille zur Integration sei mit "einer kurzfristigen Freiheitsentziehung zu wecken". Gegen Anführer oder aktive Teilnehmer soll jedoch hart durchgegriffen werden: "Ihre sofortige Entfernung aus der Öffentlichkeit wird in der Regel erforderlich sein". Das bedeutet Gefängnis oder aber auch KZ.

Ein regelmäßiger Streifendienst der Polizei scheint der SS am besten geeignet, die Gruppenbildung vorbeugend zu bekämpfen. Zur Verstärkung dient der Streifendienst der HJ (SRD). Zusätzlich dazu sollen Wehrmachtsstreifen eingesetzt werden, um Mädchen in Begleitung von Wehrmachtssoldaten zu kontrollieren.

Die Eltern sollen über die aufgegriffenen Jugendlichen durch uniformierte HJ-Kuriere informiert und gezwungen werden, ihre Kinder persönlich abzuholen.

Der Bericht, der an die verschiedensten Stellen geht, zeigt, wie ernst der NS-Staat die Zusammenschlüsse unangepasster Jugendlicher nahm und mit welcher Härte er gegen sie vorging.



 
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