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Aktion gegen "Bickendorfer Nerother"

Am Abend des 21. August 1935 meldet der HJ-Gefolgschaftsführer Heinz Kl. eine "staatsfeindliche Zusammenkunft und Absingen von staatsfeindlichen Kampfliedern" durch Angehörige einer "Nerotter"-Gruppe in der Rochusstraße 37. Von einigen anwesenden Jugendlichen stellt der HJ-Streifenführer die Personalien fest.

Am fraglichen Abend haben sich, wie schon zuvor, Jungen und Mädchen in der Rochusstraße 37 in Bickendorf getroffen. Joseph Sch. und dessen Freund Christian V. hatten im Haus einen Raum angemietet, um das Morsen zu erlernen. Sie üben dort einmal wöchentlich; abends kommen andere Jugendliche, um sich in dem Raum zu treffen.

Am Abend des 21. August dringt eine HJ-Streife in das Haus ein. Der Vater von Josef Sch., Peter Joseph Sch., ein NSDAP-Mitglied und SA-Mann, schildert am 23. August die Vorgänge am 21.8.:

"Meine Frau begab sich nach unten und ich hörte dieselbe plötzlich aufschreien. Als ich hinzukam, sah ich, wie sie geschlagen wurde, es waren in diesem Moment auch etwa 30 Personen im Toreingang. Um meine Frau zu befreien, blieb mir nichts anderes übrig, als um mich zu schlagen. (...) Im übrigen war eine heikle, allgemeine Schlägerei entstanden. Was eigentlich los war, wußte ich selbst nicht. Später, als ein Pol. Beamter erschien, erfuhr ich erst, daß die HJ. eine verbotene Zusammenkunft bei mir festgestellt haben wollte."

Die Schilderung der HJ lautet folgendermaßen: "Wir stellten fest, dass dort in einem Raum etwa 20 Personen waren, es waren Jungen und Mädchen. Als man uns bemerkt hatte, wurde das Licht gelöscht. Nunmehr kam ein Junge heraus und zwar N. Auf unsere Frage mußte er zugeben, HJ-Angehöriger zu sein (...). Inzwischen kamen auch die anderen aus dem Raum heraus (...). Ich habe nun versucht, sämtliche Anwesende zu notieren, was mir aber nicht mehr gelang, weil dieselben herausdrängten. Trotz unserer Gegenwehr wurden wir gewaltsam vom Tor entfernt." Als die Polizei erscheint, sind die meisten Jugendlichen bereits entkommen.

Eine Nachbarin, Margarete M. beschwert sich über die nahezu allabentlichen Treffen. Bei den Treffen sei auch ab und zu das Licht abgedreht worden und die Tür abgeschlossen. "Ich habe mich des öfteren wegen des Verhaltens der Jungens bei diesen und bei der Hausfrau Frau G. (...) beschwert, weil ich keine Nachtruhe finden konnte. Mitte Juli ds. Js. wurde ich mit noch einigen Hausbewohnern bei den Jungens vorstellig und habe um Ruhe ersucht." Andere Zeugen, die befragt werden, können nicht sagen, ob die Jugendlichen staatsfeindliche Lieder gesungen hatten.

Vom 21. bis zum 23. August finden unter der Führung von Kl. noch zwei Hausdurchsuchungen bei der Familie Sch. statt. Einen Tag später bringt Kl. Die Beschuldigten Ludwig N. und Karl F. zur Polizeiwache. Er wirft ihnen vor, einheitliche Kleidung, nämlich kurze Manchesterhosen, getragen zu haben und "an der staatsfeindlichen Zusammenkunft" am Abend zuvor beteiligt gewesen zu sein. Die Polizei lässt die beiden mit der Aufforderung, die Hosen am folgenden Tag auf dem Polizeirevier abzugeben, wieder frei.

Die Ermittlungen der Gestapo stützen sich auf die Aussagen des Heinrich K., der aus der Jugendgruppe ausgeschlossen worden war. Er gibt an, dass die Jugendlichen gemeinsame Radtouren und Ausflüge gemacht hätten. Bei ihren Fahrten nach Losenau hätten sie andere Jungen getroffen, die bunte Halstücher trugen. Manchmal fahre die Gruppen schon samstags abends und übernachtet dann in Zelten oder in Herbergen. Jungen und Mädchen bleiben getrennt. Seit Beginn des Jahres 1935 haben sich Josef Sch. und Christian V. den Raum in der Rochusstraße gemietet, um Funken zu lernen. Immer mehr Jugendliche kämen zu Besuch, auch Mädchen.

Heinrich K.: "Von dieser Zeit an wurde nicht mehr gefunkt, es wurden lediglich Lieder gesungen z.B. "Wir sind die Kölner Bummler" sodann HJ u. SA Lieder. Ferner wurden Russenlieder gesungen, die seitens der HJ verboten sind. Außerdem wurden Pläne für neue Fahrten entworfen und besprochen."

Darüber hinaus behauptet K., die etwa 20 Jugendlichen seien eine Nerother Gruppe gewesen und hätten Kontakte zu anderen Nerother gepflegt. Angeblich haben die Jugendlichen sich Anfang August 1935 mit 200 anderen Nerothern verabredet. Ob dieses Treffen jedoch stattgefunden hat, kann die Polizei nicht nachweisen. Ein gewisser "Helmuth", der Kontakt zu den Bickendorfern hat, sei der Neubegründer des "Nerother Bundes" gewesen. Später stellt sich heraus, dass es sich um Helmuth K. aus Wermelskirchen handelt. In dem Raum in der Rochusstraße habe auch ein Nerother-Zeichen gehangen. Die Gruppe trifft sich im Blücherpark, am Hexenberg und am Fort hinter dem Nüssenbergerbusch. Helmuth K. wird nach Angaben der anderen Jugendlichen ausgeschlossen, "weil er immer unanständige Bemerkungen machte".

Nach dem Vorfall am 21. August 1935 will die Staatspolizei "das Bestehen des Nerotherbundes einwandfrei festgestellt" haben. Obwohl fast alle Jugendlichen der HJ, dem BDM oder dem Jungvolk angehören, hätten sie sich in einer freien bündischen Vereinigung organisiert. "Der Zweck der Vereinigung ist gemeinsames Wandern, Lagern und Zelten der Mitglieder beiderlei Geschlechts. Religiöse Tendenzen habe ich nicht feststellen können." Die Gestapo sieht darin ein Wiederaufleben der Wandervögel. Auf den Wanderungen hätten die Jugendlichen Abzeichen der Nerother getragen. Die Gruppe habe auch Kampflieder gegen Hitler und Baldur von Schirach gesungen.

Ende Juli ist die Gruppe bereits einmal bei Altenberg polizeilich festgestellt worden. Sie wird festgenommen und über Nacht in einer Scheune festgehalten.

In den Verhören der Jugendlichen bestreiten sie einhellig die Vorwürfe. Sie hätten nur harmlose Wanderungen gemacht und keine staatsfeindlichen Lieder gesungen. Einige Jugendliche belasten allerdings andere, indem sie aussagen, diese hätten positiv über die Nerother gesprochen. Die Person "Helmuth" kennen einige, niemand kann aber genaueres sagen. Am Abend des 21. August hätten die Hitlerjungen angegriffen; einer habe sogar ein Messer gezogen.

Als Heinrich K. von der Polizei mit diesen Angaben konfrontiert wird, gibt er zu: "Bestimmte Momente für eine Neugründung des Nerother Bundes durch Sch. und Gen. habe ich nicht. (...) Daß irgendwelche Maßnahmen ergriffen worden sind, welche auf eine Wiederauflebung oder einem Fortbestand des Nerother Bundes schlißen ließen, wüßte ich nicht. (...) Einzig und allein steht fest, daß in Losenau von Sch., N., F., M., S., Kl. u. R. der Nerother Gruss: "Horrido" in Anwendung gebracht wurde (...).Staatsfeindliche Lieder habe ich lediglich in Losenau von dem mit Vornamen bezeichneten "Hellmuth" gehört. (...) Das Lied "Wir sind die Kölner Bummler" ist nur von uns auf der Fahrt verschiedentlich gesungen worden. Hieran habe ich mich auch beteiligt."

Der HJ-Unterbannführer Jakob G. kann nicht viel zur Belastung der Jugendlichen sagen, im Gegenteil: "Soweit ich diese Jungen kenne, hat keiner derselben dem "Nerother Bund" früher angehört. Ich traue denselben auch gar nicht zu, sich ernstlich für die Wiederaufbaubestrebungen dieses Bundes heute einzusetzen. Wenn dieselben auch zusammen auf Fahrt gingen, so ist dies m.E. mehr aus romantischen Gefühlen heraus geschehen, eine Böswilligkeit ersehe ich hieraus nicht."

Die Polizei schließt sich dieser Einschätzung an: "Ein Beweis für den Wiederaufbau des verbotenen "Nerother-Bundes" (...) konnte nicht erbracht werden. Der einzige Zeuge K., der auch das Einschreiten gegen die Beschuldigten veranlasste, erscheint wenig glaubhaft. Der (...) vernommene Zeuge, HJ-Unterbannführer G., der die Beschuldigten mehr oder weniger kennt, traut denselben eine solche Betätigung auch nicht zu (...) Dies erscheint auch annehmbar, insbesondere, weil es sich ausschließlich um Angehörige der HJ. bzw. SA handelt. Es dürfte sich lediglich um einen Verstoß gegen die Verordnung des Oberpräsidenten der Rheinprovinz vom 1.4.35, gemeinschaftliches Wandern von Knaben u. Mädchen, handeln."

Auch der Oberstaatsanwalt kann keine Straftat erkennen. Ludwig N. wird auch nicht für das Tragen seiner Manchesterhose belangt, mit der er am 22. August 1935 festgenommen wurde. Der einzige mögliche Verstoß, so der Oberstaatsanwalt, sei das gemeinschaftliche Wandern von Jungen und Mädchen. Dagegen käme "lediglich Verhängung von Zwangsgeld in Betracht."



 
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