Kölner Domblatt 2014 - page 14

des Erzengels Gabriel erkennbar bis hin zu einer geradezu chaotischen Überla-
gerung kurzer Linienbündel, die sich so etwa in den Schattenpartien des Gewands
Mariens in Angrenzung zum Pultschränkchen beinahe flächendeckend verdich-
ten (Abb. 4, 5). Die für die Hand Lochners als charakteristisch angesehene Kreuz-
schraffur findet sich an keiner Stelle. Stattdessen lässt sich verschiedentlich ein
Schraffursystem ausmachen, das aus einer dreifachen Überlagerung kurzer si-
chelförmiger Striche besteht, wobei der jeweils nachfolgende Liniendurchgang
den vorhergehenden leicht diagonal kreuzt und so der vermeintliche Eindruck ei-
ner Zickzackschraffur entsteht.
Wie bei keiner anderen Tafel des Altars lässt sich in der Unterzeichnung der
linken Flügelaußenseite deutlich eine zweiphasige Vorgehensweise ablesen. Im
ersten Durchgang legte der Zeichner mit dünnen Linien nur summarisch Kon-
turen und einzelne Binnenlinien von Umhang und Kopf Mariens fest. Im nächs-
ten Schritt fuhr er mit der verdichtenden Detailzeichnung von Haaren, Gesicht,
Gewandfalten und Hintergrundausstattung fort und fixierte so auch Volumen,
Licht- und Schattenpartien der Darstellung (Abb. 4). Im Bereich der Gewandge-
staltung imOberkörper Mariens findet sich darüber hinaus noch eine weitere Un-
terzeichnungsphase, die erst nach der beginnenden Malerei erfolgte und einen
korrigierenden Eingriff der Mantelform und -schließe darstellt. Während der
Mantel zunächst von einer großen Brosche auf ihrer Brust zusammengehalten
wird, verändert der Künstler nach bereits begonnenem Malprozess mit weiteren
Unterzeichnungslinien die Form des Mantels, der ihr nun in einer moderneren
Variante ohne jegliche Schließe sanft über die Schultern fällt (Abb. 4, 24).
Beachtenswert ist die perspektivische Konstruktion der Innenraumszene. Die
in der Unterzeichnung sichtbaren Tiefen- bzw. Fluchtlinien der perspektivisch re-
levanten Elemente von Holzbalkendecke, Steinfliesenboden und Pultschränkchen
sind aus freier Hand gezogen und enden jeweils im Übergang zum angrenzenden
Darstellungsbereich. Würde man die Linien gedanklich verlängern, so zeigt sich,
dass die Fluchtlinien des Raumes nicht in einem einheitlichen Horizont oder zen-
tralen Punkt konvergieren, sondern die fallenden Decken- und steigenden Boden-
132
iris schaefer
·
caroline von saint-george
21
Während in Italien zu dieser Zeit die Linear-
perspektive auf Basis mathematischer Berech-
nungen entdeckt wurde, gelangten die Künstler
des Nordens auf empirischem Wege zur weit-
gehend korrekten perspektivischen Konstrukti-
on. Vgl. Erwin Panofsky: Die Perspektive als
›symbolische Form‹ (1927), in: Aufsätze zu
Grundfragen der Kunstwissenschaft, hg. von
Hariolf Oberer, Egon Verheyen, Berlin 1980,
S. 99−167, 117−118. − Kirsti Andersen: The
Geometry of an Art. The History of the Mathe-
matical Theory of Perspective from Alberti to
Monge, Luxemburg, Berlin 2007, S. 3−9.
1...,4,5,6,7,8,9,10,11,12,13 15,16,17,18,19,20,21,22,23,24,...63
Powered by FlippingBook